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Laudatio Ehrung Isabelle Schad im Rahmen der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2019 / Essen, 18.102019

presented by Annemie Vanackere, artistic director of Hebbel am Ufer, Berlin.

„my disagreement to obey, to stand in a line, sorted by size, my disagreement to the hierarchical structure, the company system embodied, got bigger and bigger the more my awareness of and in society grew“

In diesem Zitat aus ihrem Solo „Fugen“ (2015) benennt Isabelle Schad ein wachsendes Bewusstsein für die und in der Gesellschaft als Auslöser ihres „Nicht-Einverstanden-Seins“. Ein „Nicht-Einverstanden-Sein“ nicht nur mit den ästhetischen, sondern auch den strukturellen, wenn man so will ‚systemischen‘ Prämissen des klassischen Balletts. Und begründet den Beginn einer beharrlichen, unabgeschlossenen – weil unabschliessbaren – Suche nach den innersten Ursprüngen von Bewegung mit einem wachsenden Bewusstsein des und im Sozialen. Ausgehend von ihrer somatischen Arbeit, dem Body Mind Centering und dem Studium asiatischer Techniken wie Aikido, Qi-Gong und Shiatsu betreibt sie praktische Körperforschung im buchstäblichen und umfassenden Sinn.

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Das Zitat markiert ebenso, und hier ist sie die bemerkenswerte Künstlerin, als die sie heute geehrt wird, den Beginn einer konsequenten Suche danach, wie man diese inneren Ursprünge von Bewegung, in gewisser Weise die mit allen Lebewesen geteilte und doch je subjektiv erfahrene Grundlage allen Lebens, jenseits von Repräsentation sichtbar machen kann. Und sie damit für die Betrachter*innen erfahr-, also künstlerisch gestaltbar und damit auch teilbar macht. Isabelle Schad kann man als Pionierin bezeichnen: Sie hat nicht nur gezeigt, wie sich somatische Praktiken in die choreografische Arbeit integrieren lassen, sondern auch, welche Bedeutung sie für soziale Gefüge haben können.

Ihre über zehnjährige kongeniale Zusammenarbeit mit dem Künstler Laurent Goldring, mit dem sie auch „Collective Jumps“, die Arbeit, die Sie gleich sehen werden, konzipiert und erarbeitet hat, ist hier von zentraler Bedeutung. Das Prinzip ihrer Kollaboration beschreibt Isabelle Schad in einem Interview wie folgt:

„Wir insistieren beide auf unserem Medium, statt zu versuchen, alles zu durchmischen. Dadurch wird es überhaupt erst zu einer echten Zusammenarbeit, wo es nicht mehr darum geht, dass der eine die Ideen des anderen umsetzt. Sondern es geht darum, von beiden Medien aus zu einer Sprache zu finden, die man vielleicht nicht kennt, aber die den Zuschauer ansieht, und dort eigene Erfahrungen oder Bilder auslöst.“

Aus dem Zusammenspiel der beiden Künstler*innen entsteht das Konzept des “Verstärkers”, um die inneren und äußeren Bewegungen des Körpers sichtbar zu machen. Ein Verstärker kann ein überdimensionales Kostüm sein wie in der Reihe “Unturtled”, oder Stoffbahnen wie in “Der Bau” (2012). Eine Extra-Hülle, die nichts verbirgt, sondern etwas sichtbar macht. Falten und Entfalten, Ein- und Auswickeln – Körper, Stoff und Raum werden von der Tänzerin immer neu hervorgebracht und in Beziehung gesetzt. In „Collective Jumps“, dem ersten Gruppenstück, an dem auch Goldring beteiligt ist, wird nun die Gruppe selbst zum Verstärker.

Das Konzept des „Verstärkers“ ist deshalb so wichtig und macht Schads Arbeit so einzigartig, weil es das, was in der somatischen Arbeit im Inneren als starke Empfindung wahrgenommen wird, nach Außen sichtbar, buchstäblich „mit-teil-bar“ macht. Und darin liegt das zutiefst Politische in Isabelle Schads Arbeit: es geht ihr nie nur um die innere körperlich-subjektive Erfahrung des einzelnen Menschen, die in der somatischen Arbeit Empfindungen von völliger Freiheit auslösen kann, sondern immer auch darum, wie man sie für andere sichtbar, ‚teilbar‘ machen kann. Die „Verstärkung“ ist dabei nicht als ‚rein formales Mittel‘ zu verstehen. Wie überhaupt in Schads Arbeiten Form immer eher Weg als Ziel ist. Sie macht damit vielmehr den Prozess des Formwerdens im Tanz selbst sichtbar.

Ich selber bin weder Bewegungsforscherin noch Tanzwissenschaftlerin. Ich bin, wie ich schon oft gesagt habe, auch in meinem Beruf zuallererst Zuschauerin. Aus dieser Perspektive werde ich im Folgenden sprechen – und Ihnen sehr die Lektüre der Programmhefte von Schads Trilogie über kollektive Körper ans Herz legen (die Trilogie besteht aus „Collective Jumps“ von 2014, „Pieces and Elements“ von 2016 und „Reflection“, das dieses Jahr bei uns im HAU Hebbel am Ufer Premiere hatte). In diesen Programmheften beschreibt vor allem auch Schad selbst ihre Herangehens- und Arbeitsweise. Sie gehört zu den Künstler*innen, die mit großer Präzision und Klarheit über ihre Arbeit sprechen, weshalb ich sie auch öfter mal zitieren werde. Und auch das sagt etwas aus: das Sprechen über die Arbeit ist letztlich auch ein Weg, sie zugänglich zu machen, sie mit anderen zu teilen.

Meine Überlegungen beziehen sich vor allem auf die genannten drei Arbeiten aus ihrer Kollektivkörper-Trilogie. Zum einen, weil Sie mit „Collective Jumps“ gleich den ersten Teil sehen werden. Zum anderen, weil Schad darin ihre Grundlagenforschung zu Möglichkeiten der Gemeinschaftsbildung künstlerisch erfahrbar macht – und damit einen wesentlichen Beitrag zu einer der drängenden Fragen unserer Zeit leistet.
Dabei kommt ihrem Umgang mit dem, was sie bewusst als „Synchronizität“ in Abgrenzung zu „Synchronisation“ bezeichnet, eine wichtige Bedeutung zu:
„Synchronisation meint, dass sich alle im gleichen Rhythmus bewegen, was einem totalitären System gleichkommt. In der Synchronizität aber sind wir zusammen, ohne den eigenen Rhythmus zu verlieren: Man schwingt energetisch und innerhalb der gleichen Bewegungsmuster mit den anderen mit, ist also zusammen, ohne zu ‚marschieren‘.“
Isabelle Schad lässt die einzelnen Körper eine kollektive Form eingehen, ohne ihnen ihren subjektiven Rhythmus zu nehmen. Selbst da, wo die Gruppe in der Bewegung zu einem tatsächlichen Kollektivkörper verschmilzt, wo sie Assoziationen an bewegte Ornamente oder gar an Maschinen wecken könnte, bleibt die Präsenz, die Lebendigkeit der Körper immer erhalten.
Die Befreiung vom kapitalistischen Zwang zur Selbstdarstellung als Selbstverwirklichung des bzw. als Individuum führt bei ihr eben grade nicht zur Leugnung oder gar ‚Auslöschung‘ der Subjektivität des Einzelnen. Und damit auch dem Auf- oder Abgeben der Verantwortung für eigene Entscheidungen, wie sie kennzeichnend für totalitäre Systeme ist.

Das „energetische Mit-Schwingen“ im eigenen Rhythmus in einer Form, die kollektiv geteilt wird, hat zwei Voraussetzungen: Zum einen, den eigenen, subjektiven Rhythmus überhaupt wahrzunehmen. Seinen eigenen Weg zu finden, die gemeinsame Form mit und in seinem jeweils subjektiven Rhythmus zu füllen. Wobei die Form eher Mittel als Ziel ist: die grade auch formale Schönheit von Schads Arbeiten beruht entsprechend weniger darauf, dass irgendwelche Figuren oder Bewegungsmuster von allen ‚gleich‘ oder ‚perfekt‘ ausgeübt werden. Im Gegenteil dient sie oft eher dazu, eben genau diese – im Grunde Leistungs- und Distinktionsprinzipien entstammenden – Kategorien zu überwinden. Zum anderen setzt es eine hohe Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die Rhythmen und Impulse der anderen voraus: Es ist eben nicht „jeder für sich“. Wie wir überhaupt immer auch Teil von etwas anderem sind: der Natur, dem Planeten, der Gesellschaft und auch der Techniken und Technologien, die wir selbst erschaffen haben. Entsprechend ist das gemeinsame Üben, das gemeinsame Tun immer Ausgangs- und in gewisser Weise auch Endpunkt von Schads Gruppenarbeiten.

„Meine eigene Aufmerksamkeit fiel dann wieder darauf, wie wichtig es ist, sich mit ganz konkreten Dingen beziehungsweise Praktiken zu beschäftigen, die einander verbinden. Ganz ohne Gruppenzwang oder Machtstruktur: Es geht um eine gemeinsame Sache, um das gemeinsame Üben, das Erfahren von Energie, Austausch, Leidenschaft und Kontemplation. Eine fragile Arbeit in Zeiten der Gewalt und politischen Hilflosigkeit.
Im Theater wiederum wird das „Politische“ als Thema vermehrt in den Mittelpunkt gerückt: Für mich ist es das Tun, das gemeinsame Handeln, das eine Arbeit politisch macht – ohne dass ich damit abgehoben klingen möchte. Es ist vielmehr die ganz praktische Angelegenheit des Politischen im (künstlerischen) Alltag.“ – ‚künstlerisch‘ in Klammern

Diese ‚fragile Arbeit‘ braucht Zeit und Raum: Um gemeinsam einen Weg beschreiten zu können, braucht es Kontinuität in der Praxis – und eben das ist bei den sogenannten ‚freien‘ Künstler*innen selten gegeben, selbst wenn sie, wie Schad, ‚basisgefördert‘ sind (sie erhält eine in Berlin sogenannte vierjährige Basisförderung i.H. von 90.000,— jährlich; das reicht, um die strukturellen Kosten für ihren Raum und ihr Kernteam decken zu können – künstlerische Projekte, erst recht größere Gruppenarbeiten, lassen sich damit nicht finanzieren). Um ihre künstlerischen Arbeiten realisieren zu können, müssen sie sich von Projektförderung zu Projektförderung hangeln, von Residenz zu Residenz, von Probenraum zu Probenraum – immer dahin, wo grade was frei ist und immer abhängig davon, ob es mit dem letzten Antrag geklappt hat.

Isabelle Schad hat sich deshalb, mit der sie auszeichnenden leisen, aber äußerst kraftvollen Beharrlichkeit vier Jahre lang buchstäblich mit ihren eigenen Händen einen Raum gebaut – gemeinsam mit anderen (natürlich, wie man fast sagen muss). In der Wiesenburg im Berliner Wedding, einem ehemaligen Obdachlosenasyl: als Schad dort begann, eine baufällige Ruine – heute ein lebendiger Kulturort, der fest im Kiez verankert ist. Sie hat sich damit einen Ort geschaffen, an dem sie kontinuierlich arbeiten, forschen und entwickeln kann – und den sie für andere öffnen, mit anderen teilen kann. Was sie tut. Hier finden auch regelmäßig ihre „Open Practice Sessions“ statt, in denen sie andere einlädt, mit ihr gemeinsam zu üben. Diese „Sessions“ sind tatsächlich offen, richten sich nicht nur an professionelle Tänzer*innen: jede*r ist eingeladen zu kommen, sie freut sich, wenn es sich mischt und arbeitet seit vielen Jahren schon auch mit sogenannten ‚Laien‘. Auch, um ihre Erfahrungen und ihr Wissen weiterzugeben – an alle, die den Weg zu ihr finden.
Ich selbst hatte kürzlich die Gelegenheit, im Rahmen des diesjährigen Tanzkongresses in Hellerau an einem Workshop von Isabelle Schad teilzunehmen, der gleichermaßen aus professionellen Tänzer*innen wie ‚Laien‘ bestand. Und tatsächlich, das gemeinsame Tun, das Üben in und mit der Gruppe hat eine transformierende Kraft. Es verändert – subtil, aber nachhaltig – wie man selbst, wie man in und mit der Welt ist, man begegnet sich und den anderen anders. Mein erster Gedanke danach war: Es würde der Welt besser gehen, wenn alle einmal einen Workshop mit ihr machen würden.

Zweifellos meint sie es mit dem ‘Teilen’, dem ‘Öffnen von Räumen’, dem ‘gemeinsamen Tun’ ernst. Man könnte Schad nun leicht Großzügigkeit attestieren – aber dann übersähe man die stille Radikalität, die eben nicht nur ihre künstlerische Arbeit, sondern ihr Handeln überhaupt seit nunmehr über zwanzig Jahren auszeichnet. Denn ‘Großzügigkeit’ setzt voraus, dass man etwas hat, das einem gehört, das man besitzt, und das man deshalb ab- oder weitergeben kann. Und genau hier habe ich meine Zweifel, ob diese Kategorien bei ihr überhaupt sinnvoll angewendet werden können. Es ist eine persönliche These, aber ich würde vermuten, dass “Haben” für sie keine Rolle spielt. Die Konsequenz, mit der sie ihre Suche vom „inneren Sein“ zum „Mit-der-Welt-Sein“ betreibt, läßt für Besitzdenken eigentlich keinen Platz.
Ich habe mit einem Zitat von Isabelle Schad begonnen, und möchte auch mit einem Zitat von ihr enden. Gefragt, warum in ihren Arbeiten Sprache keine Rolle spielt, antwortete sie:
“Das Erkennen, unsere Realität ist so viel reicher und komplexer, als was wir in Sprache fassen können. Deswegen ist Tanz ein solch faszinierendes Medium, weil es weit über die Sprache hinaus geht. Weil es sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung ist, die jedem die eigene Realität wiederspiegelt. Tanz, Bewegung ist komplett offen für Subjektivität, für persönliche Erfahrung. Ohne beim Betrachter etwas Bestimmtes erzwingen zu wollen, will man eben doch etwas: Es geht darum, Räume zu öffnen, in denen kleine Wunder passieren können …”
Und genau das tut sie.
Liebe Isabelle, auch im Namen des ganzen Teams des HAU Hebbel am Ufer gratuliere ich Dir zu dieser Ehrung. Wir freuen uns auf weitere Wunder – gerade in diesen Zeiten brauchen wir sie. Keep on moving!