Der Drang rauszugehen, um weitermachen zu können, hat Isabelle Schad das letzte Jahr über begleitet und auch ihre künstlerische Praxis geprägt. Ihre Open Practice Sessions (OPS) hatte sie seit dem zweiten Lockdown im November 2020 in den Humboldthain verlegt und unter Einhaltung der Hygienebestimmungen war es ihr so mit einer kleinen Gruppe von Tänzer*innen möglich, gemeinsam weiter zu praktizieren. Dieser bewusste Schritt nach draußen als Strategie, um nicht in ein echtes Loch zu fallen, war ein wichtiger Impuls, wie die Tanzpreisträgerin auf der Homepage der OPS schreibt.
Sich mit dem zu arrangieren, was noch möglich ist und dabei zu spekulieren, was später hoffentlich realisierbar ist, war wohl das täglich Brot der meisten Kunst- und Kulturschaffenden in dieser ersten Jahreshälfte. Im Falle von Isabelle Schad ging die Rechnung bezüglich der angesetzten Juni-Vorstellungen auf. Mit Open Air Veranstaltungen zu planen und die Stücke entsprechend anzupassen versprach die besten Aussichten, wie sie selbst rückblickend sagt. So halbierte sie beispielsweise die Besetzung von „Pieces and Elements“ von ursprünglich zwölf auf sechs Tänzer*innen. Im Original war die Arbeit, welche als zweiter Teil ihrer Trilogie der Frage nachgeht, wie aus Einzelkörpern Kollektive entstehen können, eine Stunde lang, doch auch der 25-minütige Ausschnitt zieht das Publikum bereits in eine faszinierende Welt der Zeitlosigkeit.
Die Tänzer*innen (Jozefien Beckers, Frederike Dofn, Josephine Findeisen, Przemek Kaminski, Manuel Lindner, Claudia Tomas) treten zunächst fast unbemerkt aus den, Corona-bedingt lückenhaften, Stuhlreihen hervor und schreiten auf die hölzerne Rundbühne zu. Die kreisförmigen, repetitiven Bewegungen der Schultern mit ausgestreckten und nach oben erhobenen Armen sowie verschränkten Händen werden erst nach und nach von minimalen Variationen durchsetzt. Unsere Aufmerksamkeit, um die in Schads Choreografien typische Detailveränderung nicht zu verpassen, ist im Outdoor-Setting, mit Sportplatz in Hörweite und Schwalben im Tiefflug, durchaus gefordert. Doch der Fluss der Bewegungen nimmt das betrachtende Auge immer wieder mühelos mit. Zumal das Stück selbst die Verbindung zur Natur sucht und vorhandene Elemente in Bezug setzt. Wie sich daraus ein gemeinsamer Rhythmus ergeben kann, zeigen die Tänzer*innen auf der Bühne mit ihren organisch runden Bewegungen des Oberkörpers und der Arme, ohne dabei unbedingt Synchronität finden zu müssen.
Dass es auch um das Erforschen zeitlicher Dimensionen geht, verdeutlichen die schwingenden Hin-und-Her-Bewegungen der später angewinkelten Arme. Mittels des Kontrasts von heller Haut und schwarzen Shirts vor einem schwarzen Moltonhintergrund, sehen wir vor allem sich bewegende Gliedmaßen – zumal uns die Tänzer*innen zu Beginn des Ausschnitts vor allem den Rücken zugewandt haben. Die rotierenden Arme erzeugen Assoziationen von oszillierenden Pendeln bis zu Rotorblättern und es drängt sich die Frage auf, ob dieses Hin und Her ein Zögern oder die Unklarheit ist, wer wann wie weit gehen möchte oder kann. Auch die räumliche Entwicklung ist von einem vor und zurück geprägt und so scheint sich das Gesamtsystem, inklusive wippender Zuschauer*innen-Köpfe, tatsächlich lange erstmal einpendeln zu müssen. Doch so subtil wie sich Veränderungsimpulse in Schads Arbeiten teils einschleichen können, genauso zielsicher kann ein*e Tänzer*in den Bewegungsmodus schlagartig ändern und den Anderen diesen Anstoß weitergeben. So werden die rhythmischen Bewegungschöre tatsächlich nicht überspannt, sondern entwickeln sich, zur rechten Zeit von morphenden Impulsen getragen, weiter.
Ob oder wie die besondere Ästhetik von „Pieces and Elements“ außerhalb der Blackbox, für welche das Werk konzipiert wurde, funktioniert, war eine spannende Frage, mit der sich die Choreografin im Adaptionsprozess beschäftigte. Welche visuellen Effekte auf der Sommerbühne überhaupt möglich sind, war entsprechend ein Kriterium bei der Wahl des Ausschnitts. Die Bühnensituation stellt sich, wie der Name des Globe Theaters mit Verweis auf Shakespearesche Traditionen vermuten lässt, als runde Bretterbühne dar. Der teils rohe und eigensinnige Charakter dieses Ortes macht nicht nur seinen Sommerabendcharme aus, er bietet auch Freiräume, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, wie Isabelle Schad im Gespräch ausführt. Mit ihrem Team hatte sie eine Woche lang vor Ort proben können, bedingt durch die hochsommerlichen Temperaturen vor allem frühmorgens und dank Kühlung mittels Wasserschlauch. Auch zu Vorstellungsbeginn um 19.30 Uhr stand für viele Zuschauende zunächst die Frage im Vordergrund, ob sie einen Schattenplatz ergattern würden. Wie Licht und Schatten, aber auch der Raum selbst, den Vorstellungsbesuch prägen, ist also durchaus anders als beim Original zwischen vier schwarzen Wänden. Dass am Ende des Abends bei dem faszinierenden Soloportrait „FUR“ tatsächlich zwei Scheinwerfer an sind, wirkt eher nostalgisch als notwendig in diesem Kontext. (Minimale Bewegungen: Isabelle Schads „FUR“, Katja Vaghi über die Showings mit Aya Toraiwa, 02.08.2020)
Alles in allem ist dieser gelungene Doppelabend, der für Viele sicherlich die erste Live-Veranstaltung seit vielen Monaten ist, gerade auch ob der leiblichen Kopräsenz ein echtes Highlight. Die Wege, die uns nach draußen führen, lohnen in jedem Falle, wenn sie von herausragenden Künstlerinnen wie Isabelle Schad gestaltet werden.
Die Double Bill „Pieces and Elements“ (Fragment #1) und „FUR“ (Vor-Premiere) ist noch heute Abend, am 19. Juni 2021 um 19.30 Uhr im Globe Theater zu sehen.
Die Premiere von „FUR“ findet am 22. Juli 2021 in den Sophiensælen statt. Als Einladung zum gemeinsamen Rausgehen im Kontext ihrer Open Practice Sessions plant Isabelle Schad vom 6. bis 8. August 2021 ein kleines Outdoor-Festival im Humboldthain und der Tanzhalle Wiesenburg.
Bewegungslabor menschlicher Körper
Wegweisend: Isabelle Schads „Pieces and Elements“ im HAU2
Von Volkmar Draeger, erschienen in Neues Deutschland
Seitdem Isabelle Schad, nach neunjährigem Studium an der John Cranko Schule Stuttgart, das Ballett verlassen und sich dem zeitgenössischen Tanz zugewandt hat, ist sie zu einer der interessantesten Choreografinnen herangewachsen. Mehr als 15 Jahre schon zeigt sie regelmäßig eigene Stücke, in deren Mitte die intensive Erforschung des Körpers steht. Ohne jeglichen erzählerischen Ehrgeiz, dafür umso konsequenter im Ausloten physischer Bewegungsmöglichkeiten. Auch mit ihrer neuen Arbeit bleibt sie diesem Anspruch treu. „Pieces and Elements“ wirft eine Stunde lang 12 Tänzerinnen und Tänzer auf der zum Plateau erhobenen Szene des HAU2 ins Experimentallabor, zergliedert ihre Leiber in die separaten Funktionen von Extremitäten und Rumpf und erzeugt hierbei Bewegungszyklen, die bisweilen an kinematische Getriebe erinnern und zu bizarren Formen führen.
Nicht nur am Anfang stehen die Akteure mit dem Rücken zum Publikum. Ihre Gesichter bleiben fast durchgängig unsichtbar, was die Geschlechtszugehörigkeit aufhebt. Zunächst tragen sie die Unterarme hinterm Kopf abgewinkelt, wenden den Oberkörper hin und her, rudern dann wie Propeller. Pausenlos schiebt sich dabei der amorphe Gruppenkörper durch den Raum, wobei sich auch seine einzelnen „Elemente“ in der Aufstellung verändern. Langsam, doch stetig vollzieht sich der Wanderprozess. Eine Leinwand, mäßig erhellt, ist mehrfach Begrenzung nach hinten, sofern sie nicht erlischt und einen scheinbar unendlichen Raum suggeriert. In bienenfleißigen Bewegungskaskaden erobert sich das pulsende System den Raum, von leise grummelndem Klang oder Rauschen von Wasser grundiert, fügt sich zu zwei Reihen, in denen die versetzt kurbelnden Arme einen Turboeffekt erzeugen. Nach einem Platzwechsel, bei dem jeder Eigenes ausführen kann, finden sich die Tänzer körpereng zur Linie, aus der einzeln die zum Spitzdach gefassten Arme hochzucken, als wollten sie für Augenblicke gotische Dome aufblitzen lassen.
Doch Schad hat noch weit verblüffendere Arten, mit den Körpern zu arbeiten, herausgefunden. Sie lässt die Tänzer sich auf den Bauch legen, ein Hosenbein aufkrempeln, dann den Unterschenkel zum Rücken ziehen und sich rutschend vorwärts fortbewegen. Im Stand wiederum fassen sie sich als Reihe an den Ellbogen und formen Wellen, als wollten sie Eisenbahn spielen. Allerdings dürfte es der Choreografin um solch konkrete Assoziationen am wenigsten gehen, vielmehr um den mechanischen Bewegungsimpetus unserer menschlichen Physis. So legen sich die Tänzer mit bloßem Oberkörper, Bein an Bein, auf den Boden und rollen als überdehnte, verschränkte Zweierwesen. Extrem mattes Licht hebt nur die unbedeckten Körperteile hervor. Gänzlich nackt nehmen sie dann stabile Seitenlage ein, recken die Arme, verbergen indes den Kopf, strecken sich oder kontrahieren, hocken im Schneidersitz mit abgewinkelten Armen wie Spinnen, ziehen die Beine an, als seien sie Masthähnchen. Endgültig werden sie da zu entpersönlichten Wesen, Skulpturen aus Fleisch, jedoch ohne jede inhumane Anmutung.
Gegen Schluss wartet Schad mit neuen, noch staunenswerteren Formspielen auf. Ein stehender Partner fasst den liegenden an den Beinen und zieht ihn, abwechselnd rechts, links, vorwärts. Arme und Beine als geschlossenes Oval verändern dabei ständig knetartig ihre Form wie ein in alle Richtungen verbiegbares, gaukelndes Skelett, eine oszillierende Amöbe, eine atmende Zelle. Am Ende stehen alle wieder nackt auf dem Plateau, die Oberkörper bis zur Gesichtslosigkeit niedergebeugt, schütteln oder strubeln das Haar, beugen und strecken die Knie als Test der Gelenke, werden ein waberndes Universum aus Aufrechten und Liegenden mit weit überkreuzten Beinen. Über diesem lange ausgekosteten Bild erlischt das Licht, bis letztlich auch der Ton abebbt. Eine eindrucksvolle Lektion in bewegter Geometrie hat Isabell Schad erteilt, mehrmals Menschen auf ihre Blöße zurückgeführt, ohne sie bloßzustellen. Im Unterschied zu den meisten anderen nudistischen Stücken gelingt der Choreografin in ihrer Behutsamkeit die Aufhebung des Sexus zugunsten, man mag es kaum glauben, einer paradiesischen Unschuld, der es nur um die Funktionalität des menschlichen Körpers geht: um das „Material“ Körper als Voraussetzung jeder tänzerischen Aktion. Schad hat mit „Pieces and Elements“ eine wegweisende Arbeit vorgelegt, eine die Schule machen sollte und weit über Berlins Stadtgrenzen hinaus erfolgreich sein dürfte.
Premiere auf PACT Zollverein: „Pieces And Elements“ von Isabelle Schad
In Kultur, Ruhrgebiet | Am 13. Mai 2017 |
Nacheinander steigen Tanzende auf das erhöhte, graue Bühnenquadrat. Im fahlen Licht stehen sie mit dem Rücken zu den Zuschauern, verschränken die Hände über dem Kopf und drehen ihre Schultern. Eine schnelle mechanische Bewegung wie kleine Bauteile an einer komplexen Maschine. Die zwölf Frauen und Männer bewegen sich dabei langsam und scheinbar chaotisch auf der Bühne durcheinander, das Lichtdesign von Mehdi Toutain-Lopez isoliert fast wie im schwarzen Theater die nackten Arme von den in schlichte schwarze Wirkware gekleideten Körpern. Dann ändert sich langsam das Bewegungsmuster, andere Drehbewegungen der Arme kommen hinzu, das Maschinelle bleibt erhalten. Dazu liefert Damir Simunovic eine leise undeutliche, elektronische Soundfläche. Ein Rauschen nur.
Isabelle Schads Tanzperformance „Pieces And Elements“ sucht nach elementaren Bewegungen. Da ist das Mechanische der Anfangsszene, den Großteil des Abends nehmen aber Bewegungen ein, die niederen Lebensformen abgeschaut zu sein scheinen, manchmal sogar vegetabil wirken, oftmals verschmelzen zwei Tanzende zu einem einzigen pulsierenden, kriechenden, wabernden Organismus. Dann wieder sind es nur einzelne Körper- oder Muskelpartien, die wie Einzeller oder Weichtiere kriechen, konvulsivisch zucken, sich aufblähen und zusammenziehen, sich entfalten oder scheinbar ohne eigenes Zutun von einer äußeren Kraft bewegt werden. Der Soundtrack liefert dazu sehr unterschwellige Umgebungen. Mal schabt es, dann rauscht es wie ein Wind in Blättern oder über Wüstensand, dann tauchten wir unter Wasser, ein leichtes Glucksen und Blubbern.
Es ist eine Suche nach dem Urgrund der Bewegung. Einem vormenschlichen Urgrund. Isabelle Schaf begibt sich in den Urschlamm der Bewegung. Selten sind an diesem Abend die Gesichter der Tanzenden zu sehen, meist stehen oder liegen sie mit dem Rücken zum Publikum oder halten die Köpfe gesenkt und verbergen ihre Individualität hinter ihren Haaren. So sind sie pure Muskulatur, reines pulsierendes Leben, selbst wenn sie im Verlauf des Stückes nackt tanzen, liegt darin keine Provokation, kein Skandalon, kein erotischer Anklang. Viel zu sehr entmenscht und zu reiner Bewegung werden die Körper. Dass das gelingt, ist vielleicht das Erstaunlichste an Isabelle Schads meditativer Choreographie.
Von Honke Rambow
Der nackte Körper wird zur beweglichen Modelliermasse
WAZ 17.05.2017
Im Halbdunkel bewegen sich Körper. Ein Dutzend Menschen, alle im schwarzen Trainingszeug. Sie haben den Rücken dem Publikum zugewandt, die nackten Unterarme sind über dem Kopf angewinkelt, die Oberkörper wiegen sich hin und her. Langsam gleiten sie durch den Raum. Eine amorphe, sich stetig bewegende Masse an Körpern, nicht unterscheidbar, aller Individualität enthoben. Jeder der Tänzer ist ein Element im Getriebe, das unaufhörlich wiegt und wogt, pumpt, sich verschränkt und wieder löst.
Irgendwann leuchten Unterschenkel aus dem Dunkel, wälzen sich die Körper auf dem Boden, später fallen Kleidungsstücke. Nie berührt diese Nacktheit peinlich. Die Körper erscheinen entpersönlicht, sind Modelliermasse für die Choreographin Isabelle Schad, die in „Pieces and Elements“ wie eine Bildhauerin das Dutzend Männer und Frauen zum Ganzen formt.
Hin und wieder verfängt sich der Blick an einzelne der nackten, langhingestreckten Tanzenden, die auf dem Boden in Seitenlage lagern – immer mit dem Rücken zum Publikum. Doch nicht lange währen diese Momente. Weiter geht es mit dem Verschlingen, dem Rotieren, diesem unaufhörlichen Bewegungsfluss.
„Pieces and Elements“ ist außergewöhnlich in jeder Hinsicht. Auf Pact Zollverein erlebte das Werk jetzt eine mit Begeisterung aufgenommene Vorführung. Isabelle Schad erzielt mit ihren monoton fließenden Körperlandschaften Visionen.
ENERGIE DER ELEMENTE
Isabelle Schads “Pieces and Elements” am Berliner HAU
Wo endet und wo beginnt der Körper?
In Schads neuer Arbeit, dem zweiten Teil der Trilogie über Kollektivkörper, wird die Irritation der Wahrnehmung erneut zur Strategie, um das Verhältnis des einzelnen Körpers in der Gruppe zu verhandeln.
Von Charlotte Riggert, erschienen in tanznetz.de
Wie schon die Vorgängerstücke „Collective Jumps“ oder „Der Bau“ kommt auch „Pieces and Elements“ mit einem puristischen und gleichsam extrem wirkungsvollen Bühnensetting aus: Im Hintergrund eine Leinwand, davor ein schwarzes Podest. Der Sound, der sich während der gesamten Performance über den Bühnenraum legt, fügt sich organisch ein in das Geschehen und öffnet weitere Wahrnehmungsräume. Tropfen, Kratzen, Schaben, Ziehen – die persistente Bewegung, die sich hier zeigt, wird auch über den Ton erlebbar.
Zunächst ist die Gruppe der PerformerInnen als Block zu sehen, mit dem Rücken zum Zuschauerraum, schwarz gekleidet und in samtigem Zwielicht. Die Bewegungsbetonung liegt auf dem Oberkörper, sie alle schwenken die Arme, über dem Kopf verschlungen, drehen, rotieren, legen die Hände in den Nacken. Und obwohl die Bewegungen einander gleichen, sind sie doch nicht dieselben – die PerformerInnen sind niemals unisono, sondern vielmehr einzelne Elemente, die in ihrem Zusammen-Sein ein Ganzes bilden. Innerhalb dieses Ganzen sind die unterschiedlichsten Rhythmen zu sehen, feinste Nuancen, die Freiraum für Assoziationen geben, ohne den Blick in festgelegte Muster zu drängen.
Dabei besticht die Bildlichkeit, die sich immer wieder einstellt – wenn beispielsweise die schwingenden Arme der PerformerInnen als ein dauerhaftes Bild des Kreises auf der Netzhaut bleiben oder die Körperlandschaften, die sich formieren, plötzlich als organische Fläche erscheinen. Es ist die Verschränkung der Genres, die Schads Arbeiten diese besondere Qualität verleiht – an den Schnittstellen von bildender Kunst und Tanz und verschiedenster Körpertechniken, entsteht eine Vieldeutigkeit des Sichtbaren, das das Vergessen von bereits Gesehenem anregt. Es ist dabei geradezu unheimlich, wie eigentlich Bekanntes zu Unbekanntem wird: Die nackten Tänzerkörper, die seitlich und mit dem Rücken zum Zuschauerraum sich vom schwarzen Boden abheben, Arme und Beine so angewinkelt, dass sie aus Publikumsperspektive nicht zu sehen sind, werden plötzlich zu Fragmenten, werden Torsi, werden organische Körpergebilde. Und wieder zeigt sich hier eine Bildlichkeit, die in ein Spannungsverhältnis tritt zu dem organischen Bewegungsfluss.
Als die Gruppe der PerformerInnen am Ende schließlich wieder dem Publikum gegenüber steht, diesmal frontal und doch ohne die Gesichter zu zeigen, kehrt Ruhe ein und das Gefühl, eine Reise gemacht zu haben. Diese Reise ist unbedingt sehenswert, auch wenn sie für jeden etwas anderes sein wird.
Kurvenreiche Umstülpungskunst
CHOREOGRAFIE Vom Labor auf die Bühne: Die Tänzerin Isabelle Schad präsentiert heute im HAU 2 noch einmal „Pieces and Elements“, den zweiten Teil ihrer „Kollektivkörper“-Trilogie
VON ASTRID KAMINSKI, taz Berlin vom 28.11.2016
Niemandem wurde die Brust ab- genommen, niemandem läuft das Menstruationsblut am Bein herunter, niemand leidet an Verwachsungen, sichtbaren Behinderungen, Fettwülsten oder unterliegt sonstig deregulierten, unkontrollierten oder nicht kontrollierbaren Körpererscheinungen. Das ist zunächst festzuhalten, wenn Isabelle Schad nun mit „Pieces and Elements“ den zweiten Teil ihrer Trilogie über „Kollektivkörper“ zeigt.
Sosehr sie betont, „holistisch“ zu arbeiten, so sehr bezieht sie sich damit auf einen klassisch (wenn auch nicht klassisch ausgebildeten) repräsentativen Tänzerkörper: jung, dynamisch, weiß und mit physisch eindeutiger – wenn auch nicht betonter – Geschlechtlichkeit. Die nackten Gliedmaßen der zwölf Tänzer*innen treten in Schwarzlichtästhetik als gold-weiß hervor, werden die schwarzen T- Shirts und Hosen abgestreift, erscheinen auch die gleichmäßig proportionierten Torsi in demselben Licht.
Dass dieser Aspekt ihrer Arbeit in „Pieces and Elements“ in den Vordergrund rückt, liegt auch an der Programmation des HAU Hebbel am Ufer unter Tanzkurator Ricardo Carmona, der parallel zu Schad die aus einer Minderheitenpolitik heraus gedachte Performance „Minor Matters“ von Ligia Lewis zeigt. Gleichzeitig liegt auch noch Mia Habibs „Tanz im August“-Arbeit „A Song To …“, die auf der gleichen Bühne gezeigt wurde, als Folie im Raum. Habib ließ ein Kollektiv aus 50 nackten Körpern aufmarschieren, das sie in einer Choreografie aus Schwarmbewegungen, Kettenreaktionen, Verbindungs- und Vereinzelungsimpulsen präsentierte. Die Individualkörper innerhalb der Körpermasse waren von biologischer und sozialer Diversität gekennzeichnet: Sie repräsentierten unterschiedliche Geschlechtlichkeiten, Alter, Hautfarben und körperliche Erhaltungsmerkmale – Falten, Glatzen, gefährlich geschwollene Hoden inklusive.
Sklavische Fixierung
Muss ein Körper auf der Bühne seine Körperlichkeit immer auch politisch repräsentieren? In der zeitgenössischen Tanz- Performance hat sich das körperpolitische Selbstverständnis weitestgehend durchgesetzt. Auch in dieser Beziehung ist der Tanz nicht vom Tänzer zu trennen. Paradoxerweise verlangt
eine solche Politisierung jedoch die geradezu sklavische Fixierung auf bestimmte, im gesellschaftlichen Diskurs gerade dominante Aspekte äußerer Körperlichkeit als Referenzgröße. Wenn Isabelle Schad ihren Kollektivkörper als homogen präsentiert, dann ist das vielleicht weder ein Bruch mit aktuellen Repräsentationsfloskeln noch eine komplett unbewusste Unterlaufung davon. Ihr Kollektivkörper ist als Produkt weniger ein Abbild äußerer politischer Realitäten als ein Laborerzeugnis unter stabilen Bedingungen.
Seit einigen Jahren hat die Choreografin sich auf das Zusammenspiel von Körper, Materie und Raum als energetische Prinzipien konzentriert. Während sie in den „Der Bau“ übertitelten Arbeiten noch die konkrete Anverwandlung von Körper und Materie probte, konzentriert sie sich für ihre Trilogie nun ganz auf die körpereigene Materie und damit auf Prozesse wie Fließ- und Ge- lenkbewegungen, Toni, Texturen, Dynamiken und Gegendynamiken von Organfunktionen und Energieflüssen.
Die unter einem bestimmten Fokus jeweils einzeln erzeugten Bewegungsmuster greifen als- bald ineinander, vermischen sich zu kanonischen Gruppen- bewegungen, die visuell ornamentale Züge annehmen, aber – in diesem zweiten Trilogie-Teil– nie zu einer abgeschlossenen Form gerinnen. Vor der Formvollendung setzt bereits die Metamorphose wieder ein.
Wem irgendwo im Hintergrund Gilles Deleuzes „Die Falte“ dämmert, kann wahrscheinlich nicht anders, als nachzulesen und Schads Entfaltungsprinzipien im Hinblick auf eine (auf Leibniz bezogene) „komprimierende Kraft“ zu sehen, die „jedes Stück Materie auf die umliegenden bezieht, auf die umgebenden Teile, die den in Betracht stehenden Körper umfließen, durchdringen und dessen Kurve bestimmen“.
Die Bewegungen, die der mal flächigen, mal mehrdimensionalen, oft auf lemniskatischen Prinzipien basierenden Körper- Kurvenlandschaft zugrunde liegen, wurden aus somatischen Methoden wie Body-Mind-Centering, Aikido oder Shiatsu entwickelt – das lässt sich teils sehen, aber auch in Interviews mit Schad nachlesen. Allesamt Techniken, die zur Harmonisierung des Körpers dienen. Zusammen mit der indirekt wirkenden Klangkulisse aus Reiben, Rauschen, Plätschern, Grummeln, Dröhnen ergibt sich daraus eine meditative (und, nach so manchem Atemgeräusch im Zuschauersaal zu urteilen, sogar einschläfernde) Monotonie, Akzente sind allenfalls wechselnde Richtungsvektoren.
Das Erstaunliche aber ist, dass die äußere Schläfrigkeit mit einer enormen inneren Bewegtheit einhergeht, bei mir teilweise bis zum Magenumdrehen. Als hätten das unbewusste Innen und das wache Außen die Rollen getauscht.
Hebbel am Ufer
Ligia Lewis: “minor matter” | Isabelle Schad: “pieces and elements”
Von Frank Schmid, Kulturradio vom RBB
Wie entstehen und funktionieren Gemeinschaften? Was bringt Menschen zueinander, was bindet sie aneinander und wie werden andere aus diesen Gemeinschaften ausgeschlossen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die beiden Berliner Choreografinnen Isabelle Schad und Ligia Lewis in ihren neuen Stücken.
Isabelle Schad lässt in “pieces and elements” die 12 Tänzerinnen und Tänzer in einer großen Gemeinschaft aufgehen, die individuellen Unterschiede lösen sich auf. Ligia Lewis hingegen betont in “minor matter” die Differenz der drei Performer. Sie entwirft eine Gemeinschaft, die durch Druck von außen entsteht und bewahrt die Vielfalt der Individualität, auch wenn dies die Gruppe zu sprengen droht. Also zwei völlig verschiedene Perspektiven auf das Thema der Gemeinschaft.
Isabelle Schad: “pieces and elements”
Isabelle Schad gestaltet ihre Gemeinschaft über eine hermetisch geschlossene Gesamt-Ästhetik und über Kleidung und Bewegung. Alle 12 Tänzerinnen und Tänzer tragen schwarze Hosen und T-Shirts – zunächst leuchten nur die Unterarme grellweiß in dem ebenfalls völlig schwarz gehaltenen Bühnenraum, später auch die entblößten Unterschenkel und dann sind alle gleichermaßen völlig nackt. Und alle führen dieselben Bewegungen aus. Sie stehen mit dem Rücken zum Publikum, rollen und schwingen die Arme in den Schultergelenken oder wiegen die Oberkörper in den Hüften.
Das sind monotone Bewegungsabfolgen mit nur minimalen Unterschieden in der Ausführung, je nach körperlichen Gegebenheiten – eine Einheitlichkeit, die sich fortgesetzt beim Wälzen über den Boden, beim Zusammenballen zu Körperknäueln, beim Auf- und Ineinander-Liegen.
Auch, weil erst beim Schlussapplaus die Gesichter der Tänzer zu sehen sind, verschwindet jede Individualität, lösen sich die Körper wie in Landschaften auf, individuelle Merkmale, Bewegungsqualitäten, Geschlechtszugehörigkeit – alles ist aufgehoben, der Körper ist Material. Und einmal mehr wird Isabelle Schads Nähe zur Bildenden Kunst deutlich: Körper und Gruppen wirken bildhaft und skulptural zugleich.
Kein Zwangscharakter, meditative Sogwirkung
Die Monotonie in der Reduktion der Bewegungsabfolgen wirkt durchaus etwas manisch, hat jedoch keinen Zwangscharakter, sondern eine meditative Sogwirkung. Die Aufmerksamkeit wird auf Detailverschiebungen einzelner Körperteile gelenkt und auf die Prozesshaftigkeit der Gruppen-Bildungen.
Isabelle Schad ist eine hervorragend präzise gearbeitete Choreografie gelungen. Wie Impulse von einem zum anderen wandern, wie sich energetische Zustände übertragen, wie Raum-Gewichtungen entstehen, wie die Körper plastisch werden und zu einem Organismus verschmelzen, wie sich Stockungen und Stauungen ausbreiten und auflösen, wie das Gesamtgewebe erblüht und vergeht – das ist ausgezeichnet durchdacht und in Szene gesetzt.
Ein Schwarm Insektoider
Von Elena Philipp, 29.11.2016, tanzraum Berlin
Komplexe (an)organische Körperkonstellationen zeigt Isabelle Schad am HAU2 mit “Pieces and Elements”
Rotation, Schwingen, Verschiebung. – Schwarz gekleidete Körper in Rückenansicht vor einem graublau ausgeleuchteten Bühnenprospekt. Die aufeinander gelegten Unterarme über den Kopf gehoben, Ellbogen umfasst. Mal legt eine*r eine Hand zwischen die Schulterblätter oder faltet die Finger und streckt die Arme, nie synchron, sondern in zeitversetztem Wogen. Mechanisch drehen sich die Oberkörper der zwölf Performer*innen dabei von rechts nach links wie Kolben, aber der Drehimpuls gelangt weich in die Gelenke und erzeugt ein Nachschwingen als wippten Äste im Wind.
Bereits in den ersten Sekunden etabliert Isabelle Schad das Ineinander von Natürlichem und Künstlichem, das sie in “Pieces and Elements” (unter anderem) interessiert. Damir Simunovics Soundscape verstärkt die Ahnung natürlicher und technischer Gefüge: Regenrauschen, das Reiben von Papier, Schläge auf Metall, unterlegt von Synthesizerklängen – wabernden Tonflächen oder pulsenden Bässen. Bei mir setzt ein interpretatorischer Reflex ein, der die sich kontinuierlich entfaltenden Formationen auf der Bühne des HAU2 assoziierend auf konkrete Begriffe bringen möchte. Dabei kann man den unaufhörlichen Fluss der Bewegungen, die Transformation von Körperkonstellationen auch einfach betrachten wie frühe Filmexperimente, die der ‚reinen’ Bewegung als audio-visuellem Geschehen huldigen – wobei die Dynamik und die Spannungen bei Schad ganz andere sind. Sehr rund und weich sind ihre Übergänge, das Tempo ist gedrosselt und das allmähliche Fließen der Bilder ist von hoher Viskosität, während der frühe Film mit seiner Faszination für Eisenbahn und Industrie das Stoßweise, Abrupte und die reibungsfreie Beschleunigung feierte.
In seiner Abstraktion steht “Pieces and Elements” auch der Bildenden Kunst nahe. Ein effektvolles Schwarz-Weiß der Körperglieder ruft Isabelle Schads durchgängig hellhäutiger Cast hervor, der mal in langer schwarzer Trainingskleidung, mal mit kurzen Ärmeln oder hochgekrempelten Hosenbeinen und oft auch nackt agiert. Aus dunkler Kleidung ragende, linear angeordnete Extremitäten – Unterschenkel neben Unterschenkel, kreisende oder komplex miteinander verschränkte Arme – bilden Ornamente, während Schad den nackten Leibern eine teigig-fleischliche Qualität verleiht und hier eher Skulpturen als Muster entstehen: In Seitenlage, ein Bein ausgestreckt, das andere für das Publikum verborgen nach vorne gezogen und eine Faust über dem Kopf aufgestützt, kneten minimale Bewegungen von Schulter und Brustkorb die fast amorph erscheinende Figurine. Hängt im Sitzen der Kopf nach unten, während die nach vorne gezogenen Arme die Schultern knöchern aufspannen und die Knie zur Seite kippen, meine ich in den Rückenskulpturen gigantisches Geflügel zu sehen. Wie eine Bildhauerin arbeitet Schad durchweg die Materialität der Körper heraus: Sehnen, Muskeln, Knochen treten plastisch hervor, die Haut schimmert im Kunstlicht (Mehdi Toutain-Lopez) mal porzellanweiß-roséfarben wie Ingres’ “Grande Odalisque”, mal fahl-lila wie Francis Bacons Kadaver.
Verbunden scheinen die zwölf Leiber durch spürende Kommunikation, durch Impulse und Resonanzen. Der kollektive Körper, an dem Isabelle Schad mit “Pieces and Elements” zu arbeiten erklärt, scheint mir eher der symbiotisch-vielgliedrige Organismus eines Wesens zwischen Tier-, Pilz- und Pflanzenreich denn der soziopolitische Körper des Gemeinwesens. Zwar betont die Choreografin die flachen Hierarchien und die offene Hingabe im Probenprozess, aber die in etlichen Merkmalen deutliche Homogenität der Gruppe mit ihren acht Frauen und vier Männern wird zu sehr ausgeblendet. Wie häufig bei Isabelle Schad steht auch “Pieces and Elements” in Beziehung zu anderen Arbeiten: Wiederkehrende Bewegungen und Interessen verbinden die Performance mit der Vorstudie “Solo für Lea”, in der Schad mit Lea Moro diesen Oktober in den Sophiensaelen etliches choreografisches Material ausprobierte, wie auch mit der Arbeit “Collective Jumps” aus dem Jahr 2014. Deren visuell ähnliche Körperformationen kommen narrativer, interpretierbarer daher. Und zeigten die Performer*innen in “Collective Jumps” noch Gesicht, sind sie in “Pieces and Elements” quasi depersonalisiert, nurmehr Rundungen oder Streckungen, Haut und Haare – Einzelstücke, eingebettet in eine Gruppe. Maschinenteile in gekoppelter Bewegung. Ein mathematischen Formeln gehorchendes Partikelsystem. Ein Schwarm Insektoider mit in unterschiedlichen Zyklen ausagierten und dennoch gleichgerichteten Interessen.