Während sie ihren Körper in einer übergroßen Hose und einem ebensolchen T-Shirt knetet, stellt er vom Bühnenrand eine umfassende Archäologie des Zuschauers auf. Zur Bewegungslosigkeit diszipliniert, sieht das Publikum, folgt man Laurent Goldring in seinen Überlegungen, nur noch Zeichen, wo doch Bilder sind. Hier übertönt er die Stille und damit die Zeichen, um Bilder zeigen zu können. Aus Isabelle Schad wird in diesem Moment ein Zweibein-Wesen, ohne Kopf, ohne Arme, ihr Körper derart in die Hose gefaltet, dass menschliche Anatomien überwunden scheinen. Man muss Laurent Goldring in seiner Genealogie des nach innen gerichteten Blicks, angefangen etwa bei US-amerikanischen Shopping Malls bis hin zum genuin angelegten Bezug des Militärs zur darstellenden Kunst, nicht gänzlich folgen. Was sich während seiner Ausführungen jedoch stetig im Bühnenraum mit Isabelle Schad herstellt, sind Bilder, ausgehend von einer spezifischen Körperästhetik.
Der Titel der Werkschau „On Visibility and Amplifications“ ist nicht nur angesichts dessen Programm: Die mittlerweile achtjährige Zusammenarbeit beider begann mit einer Auseinandersetzung um die Frage der Sichtbarkeit: „Ich glaube dir, was du machst, sehe es jedoch nicht“, entgegnete Laurent Goldring Isabelle Schad um das Jahr 2007, als diese ihn mit Körpertechniken des Body-Mind Centering und der Embryologie bekannt machte. Körperpraxen, die ihre Bewegungsmotivation nicht aus der äußeren Form, wie beispielsweise das klassische Ballett, schöpfen, sondern aus inneren Bildern von inneren Körperfunktionen. Die kritische Befragung von Körper(re)präsentationen beschäftigt Isabelle Schad bereits seit der Realisierung ihrer ersten eigenen Projekte um das Jahr 1999. Laurent Goldring wiederum prägt als bildender Künstler seit den 1990er Jahren eine spezifische Ästhetik des zeitgenössischen Tanzes. Wegweisend hierfür seien seine Kollaborationen mit Xavier Le Roy oder auch Saskia Hölbling, wie es die Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer in ihrer Einführung zur Werkschau im HAU3 herausstellt.
Beide, sowohl Isabelle Schad als auch Laurent Goldring, machen den Körper zum Material ihrer künstlerischen Auseinandersetzung und führen den ZuschauerInnen dessen Konstruktivität bereits seit ihrer ersten gemeinsamen Produktion „Unturtled #1“ (2009) sichtlich vor Augen. Der auf zwei Beinen aufrecht stehende Körper, dessen Grenzen die äußerste Schicht, die Haut, markiert, basiert als ästhetisches Konstrukt auf sich stetig wiederholenden Repräsentationslogiken. In „Unturtled #1“ erweitert zunächst ein übergroßes Kostüm aus Hose und Hemd den Raum um den Körper. Dieser nimmt mit einem Mal ungewohnte Qualitäten an – seine Umrisse beschreiben irritierende Anatomien, die immer weniger zuordenbar sind. Zugleich hängt ein willenloser Kopf in einem sich verselbständigendem Kostüm, das einen Körper beherbergt, dessen Innerstes nach Außen drängt. In „Der Bau“ (2012/2013) wird dieser Körper weit in den Bühnenraum über meterlange Stoffbahnen, über Faltungen und Schichtungen entworfen, bis er schließlich zu einem immensen Körperstoffknäuel verklumpt und dieses sich langsam durch den Raum rollende Knäuel lebendigen Charakter annimmt. In der jüngsten Arbeit der beiden, „Collective Jumps“ (2014), welche an den ersten zwei Tagen der Werkschau zudem als Tanzinstallation zu begehen war, breitet sich der Körper nun über 16 TänzerInnen aus. Jedoch stellt sich in der eigenen Wahrnehmung kein Unbehagen ob jener Vergemeinschaftung ein. Was die TänzerInnen auf der Bühne etablieren, ist kein synchron agierender Kollektivkörper, in dem Individualität dem Prinzip der Masse weichen muss. Die anfänglich an volkstümliche Tanzreigen erinnernden und zu maschinellen Zahnrädern mutierenden Körperbilder werden alsbald aufgesplittet in einzelne Körper und dann doch wieder geschichtet zu einem Tanz der Gliedmaßen. Nichts weiter als die Utopie vom gemeinschaftlichen Subjektsein offeriert hier das Bühnengeschehen. In Form jener Körperbildästhetik eine wunderschön anzusehende Utopie.
Die Kollaboration von Isabelle Schad und Laurent Goldring verfolgt mit einer derart einzigartigen Kontinuität Methoden der Sichtbarkeit und darin der Sichtbarmachung. Darstellende und bildende Kunst verstärken sich in diesen Arbeiten wechselseitig – die Körperpraxen der Isabelle Schad kommentieren die Überlegungen des durch die Kamera gerahmten Blicks von Laurent Goldring und umgekehrt. Das Faszinierende an dieser Fusion – man muss im Grunde nur schauen und jene Körperbilder entstehen lassen. Darum spricht Laurent Goldring, um Stille zu überwinden und Bilder zu zeigen.
Maria Katharina Schmidt
„On Visibility and Amplifications“: Unturtled #1
Der Blick.
Du kommst. Du lässt dich anschauen, stellst dich aus, alleine in der Weite. Du präsentierst dein Material, dein Spiel, bist die*der Puppenspieler*in deines Körpers. Zwischen Sein und Haben. Ich darf dich anschauen, nicht mehr, dennoch, wo ich will, so lange ich will. Ein Privileg. Wir überschreiten den Punkt an dem es komisch wird, an dem ich sonst wegsehe, in der U-bahn, auf der Straße. Beschämt, ertappt bin. Es aber auch nicht intim wird, so lange schauen, dass der Kuss obligatorisch ist. Ich möchte in dich rein tauchen. Doch wohin – dein Körper ist da, aber du bist wo anders. Dein Blick ist glasig, innen. Du forderst nichts, nichts zurück, mich nicht heraus, ich kann rein, kann ich? Wohin komme ich, wie tief, leer ist es, finde nichts, kann an nichts festhalten. Du teilst nichts. Ich tauche durch dich hindurch. Flutsche durch. Ich komme in deinen Körper aber nicht in dich. Doch immer wieder deine Haut erinnert mich – du Mensch! Du bist! Brüste, Rücken, Arme. Da schaust du. Schaust mich an. Wach, nach außen. Herausfordernd, deine Augen strahlend blau. Jetzt kann ich nicht mehr tauchen, stoße dagegen, alles zu, so sehr außen, so sehr kalt. Und dann plötzlich: Grunzen und Schmatzen, du Tier. Du Wesen. Verschwimmen, Verrenken, Verrecken. Alles runter, alles Mensch, weg damit, weg strampeln. Entleerung. Du windest dich raus aus der Menschlichkeit, loswerden, loslassen. Du verbleibst der Schatten deines Körpers. Du machst dich davon. Was bleibt, das Erstaunen. Es geht hier gar nicht um dich und mich.
Birte Opitz
Warum Kleider und Autos Prothesen sind
19. Juli 2011 17:20
Helmut Ploebst
“Unturtled” von Isabelle Schad und Laurent Goldring bei Impulstanz
Wien – “Unsere Kleider sind Prothesen”, sagt der französische Fotograf und Videokünstler Laurent Goldring in dem Tanzstück Unturtled #4, das die Berliner Choreografin Isabelle Schad mit ihm bei Impulstanz im Kasino am Schwarzenbergplatz gezeigt hat.
Goldring fügt die Folgen seiner Behauptung an: Wenn Kleidung, unsere “zweite Haut”, als wichtigste Prothese gilt, dann deshalb, weil sie zugleich Teil des Körpers und der Welt ist. Diese Welt, folgert der Künstler, sei insgesamt eine Prothese.
Darüber ließe sich gut streiten. Denn das Wort Prothese wird ja allgemein dem “behinderten” Körper zugeordnet – und das mit enormen politischen Konsequenzen: Der Rollstuhl beispielsweise gilt als Prothese, das Auto aber nicht. In Straßen wird daher selbstverständlich investiert, in Rampen für Rollstühle hingegen nur sehr widerwillig. Doch ohne Auto ist ein Manager, der es zu Fuß nicht in zwei Stunden von Wien nach Linz zu seinem Geschäftstermin schafft, so “behindert” wie ein Mensch mit gelähmten Beinen ohne Rollstuhl, der sich um die Ecke mit Lebensmitteln versorgen will. Also ist das Auto so lange eine Prothese, bis uns Räder wachsen.
Schad und Goldring führen ihr Publikum mit Humor in die Welt unserer Prothesen ein. Die zwei bei Impulstanz gezeigten Arbeiten aus ihrer Unturtled-Tetralogie, der erste und der erwähnte vierte Teil, sind aber nicht nur ein Vergnügen, sondern stellen manche gängige Vorstellung über den Körper definitiv auf den Kopf (in dem das Denken wohnt): zum Beispiel jene, dass eine vorgegebene Körpernorm, etwa gertenschlank und sonnenbraun, normal wäre.
Und so verschwindet die Choreografin Schad als Tänzerin in Teil eins von Unturtled nicht bloß aus Jux und Tollerei in einer übergroßen, dehnbaren Hose, sondern führt vor, wie der Körper wirkt, wenn er sich in der Normprothese Kleidung auflöst; wenn er eine Form annimmt, die “verrückt” oder eingeschränkt aussieht, und sich als solche bewegt und vorführt. Und das macht sie so klug, dass der brutale gesellschaftliche Hintergrund dieser Verwandlung sichtbar bleibt.
Für das Publikum ist der bei Impulstanz darauffolgende vierte Teil, in dem sich Goldring als Redner zu Schad auf die Bühne setzt, wie ein Schlüssel zum komplizierten Geheimnis. Sie tanzt die Transformationen des Körpers und führt vor, was eine solche Darstellung im Zuschauer auslöst. Goldring spricht die dazu assoziierbaren Gedanken aus.
Am 31. Juli veranstaltet Impulstanz übrigens einen DanceAbility-Day auf dem Gelände des Wiener Arsenals: ein Tag über das Thema Behinderung und Tanz. (Helmut Ploebst/DER STANDARD, Printausgabe, 20. 7. 2011)
Impulstanz: Verschwinden in einer Hose
19.07.2011 | 18:31 | (Die Presse)
„Unturtled #1“, eine zauberhafte Performance im Kasino am Schwarzenbergplatz. Schad tanzte in einer voluminösen schwarzen Hose, rang mit dem Stoff und schien sich dabei zu verwandeln.
Jedes Wesen, ob leblos, ob Pflanze, Tier oder Mensch, ist zur Verwandlung fähig: Das ist eine Grundidee der „Metamorphosen“ des Ovid. Sie prägte auch die von Isabelle Schad (Deutschland) und Laurent Goldring (Frankreich) inszenierte Tanzperformance im Kasino am Schwarzenbergplatz. Schad tanzte in einer voluminösen schwarzen Hose, rang mit dem Stoff und schien sich dabei zu verwandeln – in einen Büffel, eine Kuh, ein Brett. Dazu Musik, die erst nach faunischen Flöten im Wald klang, dann in pulsierende Bässe umschlug, während der Tanz mit der Hose vom Spiel zum Kampf wurde und die Tänzerin dennoch mit dem Kleidungsstück innig zu verschmelzen schien: ein menschlicher Körper im Gestus der Auflösung der Konturen.
Bisweilen sah man nur einen schwarzen Knäuel, gerade mehr die Zehenspitzen verrieten den Menschen. So wurde der Blick verunsichert: Man konnte nur raten, welchen Körperteil man gerade sah – ein Knie? einen Kopf? –, man ahnte mehr, als man wusste. In diesem Hosentanz schien sich auch die geschlechtliche Identität der Tänzerin zu verlieren.
Am Ende, als man schon meinte, es sei vorbei, als sei Isabelle Schad schon am Verbeugen war, zog sie sich die Hose abermals über den Körper, ganz hoch hinauf, sodass nur Kopf und Hals frei blieben, legte die Arme an die Knie und schlich, an die Wand gepresst, davon. Viele lachten, sie selbst grinste wie ein Clown, der die tückische Materie doch bezwungen, die Verwandlung doch noch unter Kontrolle bekommen hatte. Nach 60 Minuten, die sich wie 30 anfühlten.
ISABELLE SCHAD, LAURENT GOLDRING «UNTURTLED #3»
Ungeschildkrötet – schönes Wort. Ein vom Schutz des Panzers und von der Lahmheit der Bewegung befreiter Körper. Tanz eben. Isabelle Schad, einst Ballerina, heute Vordenkerin und Tänzerin der freien Szene, sagt: «Der Titel beruht auf einem Tippfehler; der Finger schlug zu weit links auf, es sollte Untitled heißen.»
In den Berliner Sophiensaelen stürzt sie in ein schwarzes Stretch kleid von Yara Burkhalter, verschwindet darin wie in einer weichen Schale. Neben der Bühne sitzt der bildende Künstler Laurent Goldring; er improvisiert seine Sätze, spricht aber selten, damit völlige Gleichheit zwischen der Sensation des Körpers und den Worten herrscht, damit die Zuschauer frei schweifen können zwischen der lebenden Skulpturenkröte und einem Schild aus Wahrheit, den Goldring ab und zu aufhebt.
Immer weiter verändert Isabelle Schad ihr Körperbild hinter der dunklen Stoffmembran. «Vergiss das vorherige Bild», sagt Goldring. Haben wir vergessen. «Welche Bilder zwingen mich, sie zu vergessen, um neue zu erzeugen?» Die Frage stellt sich Goldring selbst, während Isabelle Schad davon unberührt wie eine Schildkröte im Salat ein Bein aus dem Kleid streckt, als ein Versuch, das Zweibeinige zu erfinden. Goldring
murmelt: «Dann muss man die neuen Bilder vergessen, weil man sie nur sieht, um sie zu vergessen.»
Isabelle Schads einer Arm hat sich zu einem Bein gesellt, selten sah man Bein und Arm vom Körper völlig verschieden. «Es gibt zu viel Erinnerung», sagt Goldring, «an Bewegungen und Bilder. Man wird sie nicht los, sie kleben derart aneinander, dass sie das exakte Gegenteil von Tradition oder Geschichte werden.»
Das Hirn des Zuschauers teilt sich in zwei Hälften, betrachtet den Tanz, um besser über das denken zu können, was Goldring durch den Kopf geht: «Es gibt eine merkwürdige Beziehung zwischen Erinnern und Folgsamkeit.» Man denke Isabelle Schads verhüllten Körper als Burka, nur um zu sehen, dass die Burka ganz verklebt ist mit der Erinnerung an eine laue politische Sommerdebatte. Sie hört aber nicht zu, sondern zentriert zwischen body und mind ihren Membrankörper immer neu.
Derweil betrachtet uns Laurent Goldring, wie wir den Raum betrachten: «Wenn man sich im Raum bewegt, will man sich in Wirklichkeit vom Raum befreien. In jedem Raum wiederholt man etwas, im Bahnhof wie in
der Küche, nur so gelingt es dem Raum, die Zeichen seiner Bedeutung in sich aufzuheben.» Wie ein Ballettsaal erst durch wiederholte Nutzung zum Ballettsaal wird. «Nein, die Bewegung, der Tanz, dient doch genau dazu, den Raum von seiner Funktion zu befreien.»
Die Bewegung flieht den Raum. Isabelle Schad bewegt sich unendlich langsam. «Bewegung ist das Gegenteil von Raum.» Wann zuletzt ist zum Tanz derart genüsslich philosophiert worden? Habe ich vergessen.
Arnd Wesemann
Tanz November
Das Wesen unter der Haut
“Unturtled 3” entfremdet im Lindenfels Westflügel den Körper und dessen Bewegungen
Weißer Tanzteppich in einer rauen Halle, eine Stimme und Bewegungen unter der zweiten Haut. Was repräsentiert der menschliche Körper und wie entsteht Bewegung? Mit diesen Fragen setzen sich der französische Videokünstler Laurent Goldring und die Berliner Choreographin Isabelle Schad in der Tanzperformance “Unturtled 3” auseinander,
die Freitag und Samstag im Rahmen der Französischen Filmtage im Westflügel zu sehen war.
Schon “Unturtled” 1 und 2 bewegen sich auf diesem Terrain, die Fortsetzung entfernt sich noch stärker von der Realität. Der Titel drückt das Fehlen einer äußeren Schale, eines Panzers aus und stellt eine Abwandlung des Wortes “untitled” (titellos) dar. Der Körper und seine Bewegungen werden entfremdet und bis zu ihrer Ursprünglichkeit erforscht.
Die weiße Bühne wirkt unberührt und klar inmitten des großen, unbearbeiteten Raumes. Umso stärker bildet die Frau mit der riesigen schwarzen Hose und dem großen Hemd darauf einen Kontrast. Ihre Bewegungen erscheinen absurd unter dem Stoff, sie bleibt darunter versteckt. Mit dem Einsatz von Goldrings Stimme beginnt sie ihre Performance, während er in englischer Sprache von zeitgenössischer Kunst, Film, Fotografie, Bildern, Tanz und Sprache berichtet.
Bald befreit die Tänzerin sich von dem Hemd und verschwindet in der Hose, die nun nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck dient und selten an diesen erinnert.
Zeitweise ist ihr gesamter Körper wie unsichtbar, eine schwarze Figur im Weiß. Doch dann durchbrechen Gliedmaßen die zweite Membran, Körperteile wirken wie fremd und abgestoßen als Teil der undefinierbaren Form, die sich in alle Richtungen ausstreckt. Ständige Veränderungen lassen kein klares Bild entstehen, es gibt keine vergleichbaren Charaktere oder Vorstellungen, ein schwarzes Wesen unter einer Haut, die zeitweise alle Rundungen und Ecken des Leibes, kaum Konturen erkennen lässt.
Und erneut ein kurzes Innehalten, das Zeit für neue Assoziationen lässt und von Hilflosigkeit und Unmenschlichkeit spricht.
In der Stille erklingen die dazu vernommenen Worte wie Musik, sie nisten sich im Ohr ein und legen Sachverhalte dar, die oft schwer mit dem Geschehen auf der Bühne zu vereinen sind. Doch laut des Erzählers ist dass nicht unbedingt notwendig – eine Stimme, die nicht gehört werden muss.
Neue Bilder bauen sich auf und unterliegen ständiger Veränderung.
Im Publikum liegt Stille mit unverkennbarer Spannung, die sich auf den gesichtlosen Körper fixiert – Anonymität und Entfremdung in einer bilderlosen Zeit.
Rebekka David
Ein Bild ist ein Bild
Isabelle Schad und Laurent Goldring schaffen in „Unturtled“ einen
performativen Diskurs über Köperbilder
Kein Bild. Wir sehen eine Tänzerin, die mit ihren gesunden zwei Beinen in einen schwarzen Overall steigt. Hände und Arme (jeweils zwei an der Zahl) tun üblicherweise den Rest, um sie ganz darin verschwinden zu lassen. Wir erkennen… und erkennen… und kommen nicht umhin.
Eine Hand, ab und zu. Ja, da unten – hinter dem rechten Schulterblatt: ein Fuß. Eindeutig. Zugegeben: derweilen wirken die Bewegungen derart unmenschlich, dass man diesen Körper schon beinahe in zwei Hälften geteilt vor dem weißen Bühnenhintergrund zu verschwinden glaubt. Wo ist sie hin? Aaaaah: die Kontur einer Nase zeichnet sich unter dem Stoff ab. Puuuuuuuh. Um ein Haar den Kopf verloren.
Es ist die dritte Station der Zusammenarbeit zwischen der Tänzerin und Choreografin Isabelle Schad und dem bildenden Künstler Laurent Goldring, die am 12. November in der Schaubühne Lindenfels zu sehen ist. Sie beginnen, die gewohnten Annahmen über Körper und Bild, Original und Kopie ins Verhältnis zu setzen. Das Phänomen, nicht anders Wahrnehmen zu können, als hinter dem Ausstrecken der Handfläche eine Geste zu behaupten.
Der Körper als Gestalt, dem Menschlichkeit zu verleihen ist. Ein Menschenbild, das uns wie von selbst über Bildschirme, Plakate, Schaufenster, auf Bühnen und in unseren Köpfen begegnet und dessen Rahmen üblicherweise vorgegeben ist. Natürlich Makellos. Je unerreichbarer, umso eher festgelegt, was Menschsein zu bedeuten hat. Erwartungsgemäß liegen dabei das Gesicht, der Busen, die Beine, der Po, der Waschbrettbauch, die Hände eher im Fokus als die Fußsole oder das Knie. Unversehrt in Bild und Erwartung. Ein Mann ein Mann. Eine Frau eine Frau. Reine Haut, gerade Nasenscheidewand: Symmetrie. Bitteschön.
Unturtled legt dabei frei, welche anderen Körperbilder möglich, denkbar, oder mindestens wahrnehmbar wären. Hinter dem Verschwinden eindeutiger Konturen werden Hierarchisierungen hinterfragbar. Am Anfang steht nicht das Bild, das der Körper einzunehmen versucht. Er formt es zuallererst und denkt nicht an Normalitäten.
Irgendwann an diesem Abend tauchen Momente auf, die es egal werden lassen, was genau sich unter dem schwarzen Stoff befindet. Die Hand, die aus dem flachen Knäuel hervorblickt, muss keine mehr sein. Keine Lust auf Identifikation. Wenn es nicht ihr Körper ist, dort, ist es dann meiner? Möglicherweise sind die geformten Körper im Zuschauerraum so konstruiert, wie jener auf der Bühne. Hals über Kopf.
Alexandra Hennig
SVETVINCENT – Isabelle Schad and Laurent Goldring created the performance: »Unturtled«.They created an imaginary body, unseen under »the shell« of clothes which the German artist Schad was wearing (breathing in it, moving in it, freeing herself in it) on the open stage in the street next to the Sanvincenta church. Her solo opened the third night of the 10th festival of dance and nonverbal theatere in Sanvincenta. The idea of the process and the meaning of the work lies in the investigation of the space; the association of the turtle proposes the idea of the limitations which every one carries within us in our own different models of being.
Nusa Hauser, Novi list, Croatian daily
The choreographer Isabelle Schad and the visual artist Laurent Goldring are co-signing the choreography of the work: Unturtled. Here, we are witnessing the product of an ongoing collaborative investigation which aims for the definition of a different, unconventional body, that finds new forms through the clothes. In some moments she resembles some strange clown in other moments she transforms herself in completely abstract forms which are breathing. Isabelle nattily hides her real body (like a turtle) and searches (through the usage of the clothes) for a hidden mechanism of impulses and movements that create a flow of illusionary new bodies and appearances.
Maja Djurinovic, kulisa.eu, Cultural portal
The lovers of conceptual dance welcomed warmly the choreography of Isabelle Schad and Laurent Goldring: Unturtled, which was performed in a nearby street of Svetvincenat next to the main square. In an almost clownish way the performance deals with different possibilities of hiding and manipulating the body which is dressed in a pair of oversized trousers and huge black shirt. The quality of this unique performance lies in a dramaturgical rejection to (re)present the body in any recognisable form of garment or appearance.
Natasa Govedic, Novi list, Croatian daily
The biggest surprise of this year’s Sanvincenta festival is how the audience welcomed one of the most demanding, conceptual performances of the festival, the one performed by German choreographer and dancer Isabelle Schad. Even though she performed her creation in a nearby street, which reduced the number of spectators who could witness the work, the reactions were equally ecstatic as after the spectacular company from Senegal, at the opening night. This performance is a proof that the selection that mixes the highly elitist and more mainstream orientated dance productions can function. Isabelle Schad, influenced by the work of visual artist Laurent Goldring is putting a new light on some motives which were present in the work of authors, such as Xavier Le Roy: the work reveals the body as a form which doesn’t serve anything, neither goes towards any narrative, instead it presents itself as a moving plastique. While the viewer is not really sure which part of the performer’s body has oozed from the movable membrane under which and with which she is playing, the choreographer is amusing herself mixing elements of circus and conceptual dance, which allows her not to make a separation between visual arts and dance.
Igor Ruzic, Radio 101
Mal gucken, wie es unter dem Schildkrötenpanzer zugeht. Isabelle Schad gastiert im DanceKiosk-Hamburg im Sprechwerk-Theater – ein Mix aus choreografischer Werkstatt und
kultureller Begegnungsstätte
von Irmela Kästner
Die Suche nach den Ursprüngen treibt den Tanz immer wieder um. Auch Isabelle Schad widmet sich diesem Thema. Die Berliner Choreografin und Tänzerin hat sich für ihre Soloarbeit “Unturtled” den französischen Künstler Laurent Goldring an die Seite geholt. Sein Auge setzt die Choreografie unter Spannung in einem kontinuierlichen Gestaltungsprozess, der mal zäh, mal fließend erkennbarer Figürlichkeit erfinderisch ausweicht. Und das ist gar nicht so leicht, verlangt vor allem von der Protagonistin trotz spielerischer Leichtigkeit ungemeine Konzentration. “Unturtled”, ein Wortspiel mit der geläufigen Betitelung “Untitled”, die im Grunde kein Titel sein möchte, ist wie der angenommene Blick unter den Panzer einer Schildkröte. Zu Gast beim DanceKiosk-Hamburg im Sprechwerk-Theater fügt sich die Arbeit in den experimentellen Charakter des Festivals ein. Schwarz gekleidet in weite Hosen und ein übergroßes Hemd, aus dessen Ärmeln mit Wasser gefüllte Gummihandschuhe glucksend baumeln, verkriecht sich die Tänzerin in ihr Kostüm, boxt und beult ihren Körper von innen in aberwitziger Form gegen die Stoffhaut. Zu Anfang wirkt das clownesk. Doch zieht sich Schad immer weiter in sich selbst zurück. Dann reißt der treibende Puls der Musik ab. Die Stille verstärkt das scheinbar aussichtslose Bemühen der Tänzerin, ihr Inneres nach außen zu krempeln. Eine Studie der Abstraktion, die dennoch tief an etwas ursprünglich Menschliches rührt. Choreografische Werkstatt und kulturelle Begegnungsstätte – das Festival DanceKiosk vereint verschiedene Ebenen. Das zeigte zur Eröffnung zwei Tage zuvor die Festivalleiterin und Choreografin Angela Guerreiro mit ihrer Choreografie “Tracing Dance Reloaded”, eine Spurensuche zwischen Europa und Afrika. Bunte Glasperlen werden im Foyer zum Verkauf angeboten. Dazwischen stehen von Efeu umrankte Menschen. “Schauen erlaubt, anfassen verboten” mahnt ein angeheftetes Schild, erinnert an unrühmlich vergangene Zeiten.
Die Performance hat bereits begonnen.
Guerreiro und ihre drei Tänzer aus Äthiopien, Kenia und ein in Hamburg lebender Amerikaner öffnen ein weites Feld aus persönlicher Erfahrung und historischer Entwicklung. Und die Choreografin gibt viel Raum und Zeit, dass es sich angemessen ausbreiten kann. Aus den traditionellen Tanzschritten, Arm in Arm in eindringlicher und doch leichtfüßiger Wiederholung getanzt, brechen nicht allein die Differenzen zwischen den Kontinenten hervor. Auch Afrika ist nicht gleich Afrika, wenn die Äthiopierin Nuria Mohammed, in sich ruhend, den Stolz eines Landes in ihrem Tanz aufscheinen lässt, das als Wiege der Menschheit gilt und keine Kolonisierung kennt. Ganz anders Adam Lucas Chienjo aus Nairobi, der den Hals in alle Richtungen wendet und sich um Kopf und Kragen quasselt.
Annäherungen an Afrika sind im Theater nicht erst seit Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso ein heiß diskutiertes Thema. Auf romantischen Sozialkitsch wie die Geschichte einer Prinzessin von Sansibar, die mit einem Hamburger Kaufmann glücklich wird, hätte das Stück verzichten können. Es verhandelt die “Kolonisierung” des Körpers selbst. Genauso wie Schads und Goldrings “Unturtled” die Befreiung von Repräsentation sucht, die sich in Gesten und Haltungen aufdrängt. Insofern zeigt DanceKiosk-Hamburg 2010 die Entstehung von Möglichkeiten.
(Irmela Kästner, Welt Online)
Wie Flächen tanzen
Isabelle Schad und Laurent Goldring mit “Unturtled #3” in den Sophiensaelen
Mit dem dritten Teil des „Unturtled“-Zyklus setzen die Choreografin und Tänzerin Isabelle Schad und der bildende Künstler Laurent Goldring ihre gemeinsame Arbeit an der Wahrnehmung des Körpers fort. Wie in den vorhergehenden Teilen trägt Isabelle Schad eine überdimensional große, schwarze Stretchhose, in der sie zu Beginn der Aufführung verschwindet und erst zum Applaus wieder hervorkommt. Mit flüssigen Bewegungsabläufen erkundet sie die Grenzen des Kostüms, in dem sie selbst mit ausgestreckten Gliedern nahezu völlig verborgen bleibt. In ihrer langsamen Performance scheint es, als ob das Kostüm sich zuweilen wie eine zweite Haut über ihren Körper legt. Zwar wird der Körper dadurch einerseits gänzlich versteckt, auf der anderen Seite werden gewisse Sehmöglichkeiten offen gelegt, die gewöhnliche Sehgewohnheiten hinterfragen. So emergieren mitunter tatsächliche Bilder, die trotz der Dreidimensionalität des Körpers sich als Fläche abzeichnen. Diese Abstraktion des Körpers zur Ebene gefährdet jedoch keinesfalls die Wahrnehmung der eindrücklichen Bewegungsqualität Isabelle Schads. Vielmehr bereichert es sie und lädt zur Erfahrung ein, „gezeichnete Umrisse“ tanzen zu sehen.