Neben mir sitzt ein Mensch, der das Gesicht dieser Tänzerin nicht kennt. Er sieht Isabelle Schad in schwarzer Pluderhose, schwarzen Strümpfen und schwarzem Pullover, ein Ärmel zu Beginn nach oben geschoben, um den Unterarm zu entblößen, zum ersten Mal. Wen sieht dieser Nachbar, der wie ich, diesen schmalen langen Raum mit einem Mund-Nasenschutz betritt, so wie es das Gesetz uns befiehlt?
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Denn die Tänzerin bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. 40 Minuten lang dauert dieses magische Solo „Personne“. Ein Wunder der Selbst-Verhüllung und zugleich der Selbstentblößung geschieht. Die Hände sprechen in ihrer durchlässigen, kraftvoll artikulierten Beweglichkeit und Fragilität von der Form und Sprache ihrer hier nur erahnten Miene.
Wir wissen, es sind Hände einer Tänzerin, die auch musiziert hat, eine Tänzerin, die kraftvoll kneten kann in Shiatsu-Massagen, eine Choreografin, der es gegeben ist, große Menschenknäuel in ausladenden Bühnenräumen zu orchestralen Körperketten zu verzahnen und in kollektiven Sprüngen rhythmisch aneinander zu koppeln. Hier, in ihrer zunächst düster beleuchteten Tanzhalle Wiesenburg, im noch kriegszerstörten Gebäudekomplex eines früheren Obdachlosenasyls an der Berliner Panke, geht sie in Klausur und erneut in Zwiesprache mit dem bildenden Künstler Laurent Goldring. Die Choreografie ist die Frucht einer erneuten engen Kooperation mit ihm. Obwohl jeder stets an seinem eigenen Projekt arbeite, so betonen sie, sei es ein „Gemeinschaftswerk“. Entstanden ist es wärend der Pandemie. Für Isabelle Schad geht es um die „Verkörperung von Gesichtern durch Hände, um das Selbst als Bewusstsein, nicht als Ego.“ Der Körper darf verschwinden. Goldring zeigt parallel in einer Ausstellung Isabelle Schads Gesicht, von Händen verhüllt. Es sind Film-Loops, betitelt „Les yeux sans regard“ (Augen ohne Blick), die während des Arbeitsprozesses zu „Personne“ entstanden sind.
Ist es ein Verhüllen oder eine Offenlegung, wenn ich Wesentliches nicht zeige? Diese Frage bedrängte mich, als ich zuschaue, wie die gespreizten Finger als Fächer das Gesicht umschwirren. Wenn sie tasten, schieben, kneten, drücken, sich verschränken, falten und umstülpen, sodass die Konturen der verdeckten Stirn, Nase, Augenpartie und der Wangen, die Struktur von Mund und Kinn ein Ahnung bekommen von ihrer Dreidimensionalität, der Rundung und Wölbung der Knochen. Es sind Hände, die um etwas ringen und dabei permanent atmen und tanzen, mal als federleichte Flügelspitzen, mal als Pranke. Mit leichter Beckendrehung, ein Fuß sparsam schräg vor dem anderen, schreitet sie vorwärts und rückwärts. Die Bewegung des Gehens pflanzt sich fort durch ihre weiche, bewegliche Struktur der Wirbelsäule bis hinauf zu den flexiblen Armen und Händen, die mal horizontal, mal vertikal oder nur vor einer Gesichtshälfte – die andere ist ins Dunkle gedreht – ihr Antlitz abschotten, bedecken, begleitet von dem an- und abschwellenden Sound ihrer eigenen abgedämpften Atem- und Stimmgeräusche. In kurzen Pausen zeigt sich die Tänzerin still von hinten.
Wenn wir Alltagsmenschen die Hände vors Gesicht schlagen, geschieht es meist durch emotionale Zustände, um Trauer und Tränen zu verbergen oder etwas nicht sehen zu wollen. Facepalm, so nennt sich eine Geste im Internetjargon. Verschleierung und Maskierung haben den Sinn, das Selbst ins Abseits zu schicken, es zu schützen. Im Ausdruckstanz war die Maske Instrument, um das Persönliche des Menschen in den Hintergrund treten zu lassen und den Körper einer bestimmten Figur in den Vordergrund. Mary Wigman benutzte sie in ihrem „Hexentanz“ und im „Totenmal“, um sich selbst zu neutralisieren. Harald Kreutzberg, um zu zeigen, wer er noch war: „Die Eitle“, „Die Dirne“, „Der Zecher“, „Der Kranke“.
Isabelle Schad kehrt diesen Vorgang um. Sie inszeniert ein menschliches Drama, das ihr eigenes ist: sehr seltsam und ungewohnt, bizarr und wunderschön erscheint sie hinter der flüssigen Maske ihres Fingerspiels, um ihr Selbst zu ertasten, zu erforschen und zu entschlüsseln. Im Verlauf dieses feinen Prozesses schält sich ihre Identität heraus, ihre Persönlichkeit. Zum Schluss zeigt sie ihr Gesicht. Nackt und sehr verletzlich erscheint es mir im hellem Bühnenlicht. Ertappt. Doch mutig und bereit, wieder leer zu werden – für einen ganz neuen künstlerischen Prozess.
www.tanznetz.de, 19.09.2021
HAND AND FACE PLAY OFF
Personne in the frame of Dance Inn Festival, Zagreb, ZPC, 14-16 November 2021 by Josipa Bubaš
For the fourth year in a row, organized by De Facto Theater Company, Zagreb hosts Dance Inn , a pop-up dance festival that has so far collaborated with various artists, art groups, but also several institutions and performing spaces in Zagreb.
This year, the program was held from October 14 to 16 at the Zagreb Dance Center, where three preformances where preformed – Personne by Isabelle Schad and Laurent Goldring, Coresonances (a resonant performance body and sound arhitectonics) by Anja Bornšek & OR poiesis and Fantastic Species by Ana Kreitmeyer and The Contemporary dance studio.
The new collaboration between Berlin choreographer and dancer Isabelle Schad and visual artist Laurent Goldring was performed on the first day of the festival. The name of the show has a multi-layered meaning and it implies the presence of a social mask, character on stage, the presence of a person, oneself, but at the same time the absence of the same, gradation between someone and no one, charging and discharging, social and personal forces. The realization of the meaning of the play is in the performance of the face and hands, “allowing the rest of the body to be forgotten” as Isabelle Schad states in the description of the play. By playing with her hands – fingers, palms and face, which is covered with her hands at almost every moment of the performance, while fingers and palms are the elements that communicate, take over and become a face, the artist establishes a relationship with the performance material, body and audience.
Isabelle Schad is mostly static, with rare changes to space and performance levels. The changes role is more as transition or departure from the material, while it is the hand games that are part of the performance that pulls in the vortex of communication. The performer dressed in black at one point rolls up her sleeves to increase the playing surface of her body. The light is dimmed, flickering and follows the rhythm of the performance statement. Minimalism and visual purity emphasize the gesture of the hands. It is clear, however, that the whole body is active, that movement passes through the whole body.
In a conversation about working on the play, Isabelle Schad states that the work involved understanding / embodying the hands (the expressions they create) as “energy channels that run through fingers, palms, hands, chest and then the whole body, from feet to face, from weight transfer to movement transformation.”
What is interesting is the transmission of the hand gesture, which involves a large part of the non-verbal communication, to the face that the hands are hiding. Simultaneously creating masks and unraveling another level of energy trajectory is the key to playing with identities and entities. Fingers and palms operate as a concentration of body energy and their alterations and focus are overall body dynamics. In other words, the detection and channeling of energy paths, the creation of the other by dodging the masks, by leaking the internal flow, is directed to the hands as channels to the surface. As Isabelle Schad states in a conversation inspired by working together on a project, the play approaches the self as consciousness, as something greater than a person, body, or ego. Personne largely manages to share this level of experience, drawing the observer into this, at the same time embodied and deeply physical world, which, by approaching the other and different, on a deeper level, we actually approach ourselves.
The text was first published on: PlesnaScena.hr, 25.11.2021.