.
YUKI ONNA
Was kann man jungem Publikum zumuten, ästhetisch wie thematisch? Harmlose Niedlichkeit ist längst nicht mehr wohl gelitten. Und doch gibt es immer noch eine Scheu, Kindern allzu viel abzufordern. Stille etwa–¬nicht auszuhalten. Oder Düsternis – macht Angst. Isabelle Schad, die seit einigen Jahren auch für Kinder choreografiert, wagt sich mutig in diese Grenzbereiche vor.¬ In «Harvest» (2021), das 2023 zum Theatertreffen für junges Publikum «Augenblick mal!» eingeladen war, erkunden drei Performer*innen in reduziertem Setting die Materialeigenschaften von Weidenzweigen. Wiegen lange, schwere Äste auf den Armen, lassen Reisig rascheln und bleiben dabei ganz bei sich. Unruhe kommt bei den Zuschauer*innen im Kindergartenalter kaum auf. Vertieftes Spiel, bei dem aus Ästen eine Hütte entsteht, ein Reisigbündel wie ein Wesen wirkt oder an die Wand gelehnte Zweige wie ein Wal-Gerippe aussehen, kennen sie selbst. In «Yuki Onna» (2024) geht Isabelle Schad noch einen Schritt weiter. Die Schneefrau aus der japanischen Legende ist eine bedrohliche Gestalt: Kinder, die sich im Schnee verirren, werden von ihr zum Spielen in den Tod entführt. In anderen Versionen der Sage lockt sie Menschen ins gleißende Weiß, um sie mit kaltem Atem zu töten oder gar aufzufressen. Die Geisterfigur kann aber auch unterstützend handeln, und bei Isabelle Schad und Aya Toraiwa, der an der Kreation beteiligten Tänzerin, bleibt der Charakter von Yuki Onna in der Schwebe. Mit weißen Tüchern umwickelt, verwandelt sich Toraiwa in ein Gespenst, eine Schneewehe, in belebte Materie.
Ihre knielangen schwarzen Haare wirbeln wie ein Sturmwind durch die Luft oder liegen wie dunkel gefrorenes Eis auf dem weißen Bühnenboden. Steckt Toraiwa ihre Fingerkuppen durch den Haarvorhang, sehen sie aus wie ein Monstergebiss. Was erwachsene Begleiter*innen erschreckt, stört die Kinder offenbar nicht. Sie beschäftigen sich auf vielerlei Ebenen mit dem Gezeigten: Rätseln über die Beschaffenheit der Haare (sind die echt?); ahmen Bewegungen nach; oder fangen die Schneeflocken, die in einer Szene gen Boden rieseln. Anspruchsvolle Kunst für ein junges Publikum ist möglich und lohnt, das beweisen Isabelle Schad und ihr Team.
Dezember 2024, Tanz, von Elena Philipp
Sie will doch nur spielen
Yuki-Onna – die Schneefrau von Isabelle Schad und Aya Toraiwa lädt alle ab fünf Jahren ein, aus der Frühlingssonne in die Schneelandschaft des japanischen Mythos einzutauchen. Das Tanzstück prämierte am 28. April 2024 in der Tanzhalle Wiesenburg und war anschließend vom 3. – 5. Mai 2024 im Theater o.N. zu sehen.
„Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab.“ Der einleitende Satz des Märchens Schneewittchen wäre auch ein passender Einstieg für Yuki-Onna – die Schneefrau. Als ich an diesem sonnigen Freitagmorgen das Theater o.N. betrete, denke ich an all die Geschichten, die mir als Kind erzählt wurden und wie diese noch heute nachhallen. Ich erinnere mich daran, wie Frau Holle Schnee aus den Kissen schüttelt, wie Rapunzel ihr Haar herunter lässt, wie Εἰρήνη (Eirene) aus der Höhle befreit wird. Umso neugieriger macht mich die Sage von Yuki Onna, die ich bis zur Ankündigung dieses Tanzstückes noch nicht kannte.
Der Boden der kleinen Bühne ist mit schneeweißen Stoffen ausgelegt. Nebelschwaden hängen in der Luft. Am vorderen Bühnenrand steht Tänzerin Aya Toraiwa und blickt in die neugierigen Kindergesichter im Publikum. „Ich bin Yuki Onna – die Schneefrau“ ertönt eine Stimme aus den Lautsprechern. Die Tänzerin öffnet ihre knielangen schwarzen Haare, breitet sie vor sich auf dem Boden aus und beginnt über die weiße Bühne zu rollen. Während sie sich spielerisch von rechts nach links wälzt, ruft sie mit fröhlicher Stimme Worte und Silben auf Englisch, Deutsch und Japanisch. Schräg vor mir dreht sich ein Kindergartenkind zu seinen Freund*innen um und erklärt ihnen: „Das sind normale Haare, denn wenn es Kunsthaare wären, würden sie ab, ab, ab fallen.“ Die Haare bleiben im Fokus des Stückes. Die Tänzerin versteckt sich hinter ihnen, schwingt sie in großen Kreisen. Die Beobachtung der Strähnen hat eine fast hypnotische Wirkung, als müssten sie den physikalischen Gesetzen von Schwerkraft und Zeit nicht folgen. Wenn die schwarzen Locken auf dem weißen Boden liegen, denke ich an Wurzeln oder tiefe Risse in der Schneelandschaft. Fährt Aya Toraiwa mit den Fingern durch die vorm Gesicht hängenden Haare, werden diese zu Zähnen eines gruseligen Monsters.
Bei meiner Recherche zu dem Mythos ist immer wieder unklar, ob Yuki Onna nun ein guter oder ein bösartiger Geist ist. In manchen Ausführungen lockt sie Menschen bei Schneestürmen in die Kälte, lässt sie durch ihren eiskalten Atem oder einen Kuss erfrieren. In anderen wird sie als friedlich und spielerisch beschrieben oder als helfende Kraft in kalter Not. Immer jedoch ist sie einsam. Sie streift alleine durch verschneite Wälder und spielt mit den springenden Schneeflocken. Die Kinder im Publikum haben keine Angst vor der dargestellten Yuki Onna. Die Einsamkeit der Figur ist jedoch stark spürbar. Immer wieder spielt sie mit ihrem Haar, wirbelt es durch die Luft, bis es fast so scheint, als hätte es einen eigenen Willen. Den Strähnen wird Leben eingehaucht, sie werden zum eigenständigen Körper, zur treuen Begleitung der einsamen Wanderin.
6.05.2024, tanzschreiber, von Maria Ladopoulus
Auszug aus dem Ankündigungstext: „Veranstaltungen für Berliner Kinder: Eine Schneefrau, ein fliegendes Kamel und fantastische Leseratten“.
Ein poetisches Tanztheaterstück auf Englisch und Japanisch für Vorschulkinder? Kann das gut gehen? Ja, sagen die Choreografinnen Aya Toraiwa und Isabelle Schad. Und auch sonst wird einiges an Kultur für Kinder geboten.
Schnee im April und Mai? Ja, den gibt es, gerade fiel er vom Berliner Himmel und am Wochenende verwandelt sich eine Bühne in Prenzlauer Berg in eine weiße Schneelandschaft, bei der Premiere des Tanztheaterstücks „Yuki-Onna. Die Schneefrau“ für Kinder ab fünf Jahren. Das Stück ist in einer Kooperation des Theaters o.N. und der Tanzhalle Wiesenburg entstanden, es wird in beiden Häusern gespielt. Getanzt wird es von der Japanerin Aya Toraiwa. Ihre langen schwarzen Haare sind ein zentrales Element. „Als wir überlegt haben, welches Stück wir als Nächstes auf die Bühne bringen, habe ich Aya gefragt, ob es ein japanisches Märchen gibt, in dem es um lange schwarze Haare geht“, sagt Isabelle Schad, Co-Choreografin des Stücks. „Ich bin mit dem Märchen Yuki-Onna aufgewachsen“, sagt Aya Toraiwa. „Die Originalversion ist etwas gruselig. Die Geschichte soll Kinder davon abhalten, allein in den Schnee zu laufen. Die Schneefrau ist eine Art Monster und als Kind hatte ich Angst vor ihr.“ In der neuen Version des Tanztheaters kümmert sich die Frau im weißen Gewand jedoch liebevoll um ein Kind, das sich im Schnee verlaufen hat.
Aya Toraiwa ist auf der Bühne sowohl die Schneefrau als auch das Kind, das mit dem Ball spielt. Und sie verkörpert sogar den Schnee und den Ball. Weiße Stoffe flattern über die Bühne, bewegt von einem Ventilator, eine Schneemaschine kommt zum Einsatz. Die Geschichte wird in drei Sprachen erzählt: deutsch, englisch und japanisch. Ein „poetisch- sinnliches Tanzerlebnis für alle Generationen“ nennen die beiden Choreografinnen das Stück. Aber ist es nicht schwierig, Kita- und Grundschulkinder für so etwas zu begeistern? Nein, sagen die beiden.
Erwachsene sollten Kinder in dieser Beziehung nicht unterschätzen, sagt Isabelle Schad. „Selbst wuseligen Kindergruppen kann man auch solche Stücke zutrauen, oft haben sie eine beruhigende Wirkung. Und Kinder nehmen alles viel unmittelbarer wahr.“
Und Kinder sind ein super Barometer: Wenn etwas beim Rhythmus nicht hinhaut, werden sie unruhig.“ Und was ist mit den englischen und japanischen Passagen? Schalten deutschsprachige Kinder da nicht ab? „Sprache kann auch Musik, Klang und Geste sein“, sagt Isabelle Schad. „Das muss man jenseits vom bloßen Verständnis denken.“ Und nach dem Stück dürfen die Kinder dann selbst auf die Bühne, die Musik ist wieder an, der Ventilator läuft. Sie dürfen dort tun, was sie wollen.
26.04.2024, Tagespiegel, von Daniela Martens